Ein „kleiner Urknall“ erschüttert den automobilen Nordschwarzwald

Über Jahrzehnte hinweg sei die Automobilbranche – und damit auch die Zulieferer aus dem Nordschwarzwald – in ihrem eigenen Universum ungestört unterwegs gewesen. Sie hätte „relativ gut davon gelebt, dass Menschen Autos gekauft haben, die sie nicht brauchen, von Geld, das sie nicht hatten, um Leute zu beeindruckten, die sie nicht mögen“, spitzte Professor Stefan Bratzel beim TraFoNetzFORUM im KUBUS Nagold die Lage zu.

Vor rund 100 Gästen aus der gesamten Region Nordschwarzwald machte der bekannte Automobilexperte und Direktor des Center of Automotive Management (CAM) Professor Bratzel aus Bergisch Gladbach deutlich, dass mit herkömmlichen Geschäftsmodellen und Produktionen Schluss ist. „Momentan verändert sich vieles ganz radikal.“

YouTube

Mit dem Laden des Videos akzeptieren Sie die Datenschutzerklärung von YouTube.
Mehr erfahren

Video laden

VIDEO: Nachklapp in bewegten Bildern – TraFoNetzFORUM im KUBUS Nagold mit Automobilexperte Prof. Bratzel und Schwarzwaldbotschafter Hansy Vogt als Moderator. ©PaulHoffer/IndigoPictures

Die Automobilindustrie merke, „dass sie nicht mehr allein in ihrem Universum unterwegs ist“. Tesla und der chinesische Vormarsch mit batteriebetriebenen Elektroautos zeigten den etablierten Herstellern, „dass sie das erste Mal mit Wettbewerbern zu tun haben, die größer und stärker sind als sie selbst“.

Bratzel spricht von einem „kleinen Urknall“, der noch einige Jahre dauern wird. Plötzlich seien technische Raffinessen der fossilen Antriebe weniger bis gar nicht mehr gefragt. In der neuen Autowelt bestimmten Apps und umfassende Software-Steuerungen die elektrobetriebenen rollenden Computer auf vier Rädern namens E-Auto.

Jürgen Großmann, Oberbürgermeister Stadt Nagold, beim TraFoNetzFORUM im KUBUS Nagold. (c)Foto: Gerd Lache

Was also tun? Dazu hat die Wirtschaftsförderung Nordschwarzwald (WFG) mit dem vom Bundeswirtschaftsministerium geförderten Projekt „Transformationsnetzwerk Nordschwarzwald“ (TraFoNetz) die größte Gemeinschaftsinitiative der Region um sich geschart. Ihr Ziel formulierte WFG-Geschäftsführer Jochen Protzer so: „Wir ringen um Lösungen bei der Frage nach der Zukunft von Automotive und insbesondere nach der Zukunft allderjenigen, die sich um das Thema Mobilität und Transformation der Wirtschaft insgesamt verschrieben haben“.

Nagolds Oberbürgermeister Jürgen Großmann, Mitglied im TraFoNetz-Beirat, ist zuversichtlich: „Die Transformation findet am Wirtschaftsstandort Nagold tatsächlich schon statt.“ Einige Zuliefer-Firmen seien gut und innovativ unterwegs beim Marsch in die automobile Zukunft. Boysen beispielsweise produziert mit einem 100-Millionen-Euro-Invest  im Landkreis Calw Batteriegehäuse für namhafte Autohersteller und sichert damit Arbeitsplätze vor Ort.

TraFoNetz-Partner im KUBUS Nagold beim TraFoNetzFORUM (von links): Moderator Hansy Vogt, Prof. Dr. Stefan Bratzel, Carl Christian Hirsch (IHK), Martina Lehmann (Arbeitsagentur), Thorsten Würth (Südwestmetall), Dr. Stefan Baron (AgenturQ), Jürgen Großmann (OB Nagold), Daniel Rabe (IG Metall BW), Jochen Protzer (WFG-Geschäftsführer), Katharina Bilaine (TraFoNetz-Projektleiterin). (c)Foto: Gerd Lache

In Pforzheim etwa sei die Firma Witzenmann bei der Neujustierung ihres Unternehmens auf E-Mobilität ganz vorne mit dabei, machte TraFoNetz-Projektleiterin Katharina Bilaine deutlich. Ohnehin müsse die Region den Wandel schaffen, denn der Nordschwarzwald gelte einer IW-Consult-Studie zufolge als einer von jenen 40 Hotspots in der Bundesrepublik, an denen ein überproportional hoher Anteil von Automotive-Unternehmen eine vergleichsweise überdurchschnittlich hohe Zahl von branchenspezifischen Mitarbeitenden beschäftige. Und diese Wirtschaftskraft, so Großmann, „müssen wir weiter auf allerhöchstem Niveau halten“.

Dies funktioniert laut Professor Bratzel nur dann, „wenn man neue Kompetenzen und daraus neue Wertschöpfungsketten entwickelt“. Konkret: Das Thema Software und Daten sei unumgänglich und Kooperationsmodelle müssten überarbeitet werden. Auf keinen Fall dürften Paradigmen des Verbrenners auf die Elektromobilität übertragen werden. Der künftige Kundennutzen sei ein anderer, das Auto müsse neu gedacht werden. Das Alte als Referenz herzunehmen, diesen Kardinalfehler hätte seinerzeit das Nokia-Handy in die Bedeutungslosigkeit verbannt, weil der Kundenanspruch des Smartphones nicht erkannt worden sei.

Jochen Protzer, Geschäftsführer Wirtschaftsförderung Nordschwarzwald GmbH (WFG). (c)Foto:DorisLöffler

Außerdem: „Wenn sich die Welt sehr stark verändert in Richtung Software, in Richtung Dienstleistung, dann müssen sich auch die Kultur und die Organisationsstrukturen der Unternehmen ein stückweit in Richtung Softwareunternehmen, Digital-Unternehmen ändern.“ Der einstige Branchenprimus Japan mit Toyota an der Spitze gehört Bratzel zufolge momentan zu jenen etablierten Akteuren, „die das Thema noch nicht wirklich gut auf der Agenda haben“. Marktführer Tesla beweise, dass man auch mit Elektroautos Geld verdienen könne.

Und wie müssen sich Beschäftigten für die automobile Zukunft rüsten? In einer Podiumsdiskussion machten Thorsten Würth für Südwestmetall und Daniel Rabe für die IG Metall sowie Martina Lehmann, Chefin der Arbeitsagentur Nagold-Pforzheim, deutlich, dass Weiterbildung und Qualifizierung der Schlüssel für sichere Arbeitsplätze ist. Rabe sieht eine Verpflichtung bei den Unternehmen, eine klare Perspektive aufzuzeigen: „Wenn ein Beschäftigter nicht genau weiß, wohin die Reise geht und nicht genau weiß, wofür er einen Qualifizierung machen soll, dann ist die Motivation entsprechend gering.“

Podiumsgespräch mit (von links): Thorsten Würth (Südwestmetall), Daniel Rabe (IG Metall), Moderator Hansy Vogt, Martina Lehmann ( Vorsitzende der Geschäftsführung der Agentur für Arbeit Nagold-Pforzheim). (c)Foto: Doris Löffler

Der Südwestmetall-Vertreter sieht insbesondere die Betriebsräte in der Pflicht, die Mitarbeitenden für Weiterbildung zu sensibilisieren. Eine Herausforderung, die Moderator Hansy Vogt ansprach, sind einerseits Versagensängste, wenn nach Jahrzehnten wieder die Schulbank gedrückt werden muss, andererseits Probleme der Unternehmen in Zeiten des Arbeitskräftemangels, ihre Mitarbeitenden für Qualifizierungen frei zu stellen. Martina Lehmann wies auf spezielle Programme der Arbeitsagentur hin: „Wir setzen sehr stark auf berufsbegleitende Weiterbildungsangebote.“ Weiterbildungen würden teils niederschwellig angeboten. Unternehmen könnten finanzielle Zuschüsse in Anspruch nehmen. Ein erster Schritt sei, sich bei der Arbeitsagentur unverbindlich zu informieren oder über einen Erstkontakt bei TraFoNetz entsprechende Unterstützung anzufordern.